Das Plakat: Spiegelbild der Öffentlichkeit
von Prof. Heinz-Jürgen KristahnSpiegel, so heißt es, die sprechen: Sie versetzen den Betrachter überhaupt erst in die Lage, Ästhetik wahrzunehmen. Sie ermöglichen, das zu sehen, was wir sehen wollen, gleichermaßen gestatten sie aber auch, das zu übersehen, was wir nicht sehen wollen. Spiegel antworten immer suggestiv in der Sprache, mit der sie befragt werden. So gesehen sind Spiegelbilder weitaus mehr als neutrale physikalische Phänomene, sie stellen Interpretationen bzw. urteilende Reflexionen im Kontext der jeweiligen gesellschaftlichen Realität dar. Sehen heißt somit Bewerten und Bewerten bedeutet gleichzeitig Sehen.
Auch das Plakat ist ein Spiegelbild der Öffentlichkeit. Jegliches gesellschaftliche Tun ist ohne den Einfluss politischer, sozialer und kultureller Traditionen nicht denkbar. Denn Menschen wachsen nicht isoliert von sich und ihresgleichen auf, sondern müssen sich -ob sie wollen oder nicht- den jeweiligen Prämissen ihrer jeweiligen Prägung unterwerfen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es zwar möglich und mitunter legitim ist, sich bewusst von den umgebenden Traditionen abzuwenden, doch handelt es sich dabei immer um einen Akt der Auflehnung oder Rebellion. Permanent bildet die Tradition eine Scheidelinie zwischen kultureller Rezession und kultureller Avantgarde: Das Urteil unterliegt jeweils der Sehweise des Betrachters.
Das Plakat, historisch betrachtet, dient ursprünglich der Aufklärung wie der Propaganda. Es fungiert seit jeher als Instrument der Information, das heißt der öffentlichen Meinungsbildung, und dieser Charakter ist dem Medium bis heute auf besondere Weise immanent. Das Plakat steht -anders als Töne oder bewegte Bilder- trotz einer Reihe regionaler bzw. kultureller Besonderheiten nicht nur in einer jahrhundertealten Wahrnehmungstradition, sondern verfügt in seiner Eindeutigkeit nach wie vor über höchste suggestive Wirkung -ein weltweit gültiger Effekt, den Demokraten wie Diktatoren gleichermaßen nutzen und dessen sie sich sehr wohl bewusst sind; denn trotz einer Vielzahl neuer, multimedialer Kommunikationskanäle hat das historisch gewachsene Plakat nichts von seiner Attraktivität eingebüßt. Im Gegenteil.
Plakate kommunizieren demnach nicht nur die Wirklichkeit des Rezipienten, sondern auch die Wirklichkeit des Absenders. Wirklichkeit ist allerdings nicht gleichbedeutend mit Wahrheit, mehr noch: Ein wesentlicher Bestandteil plakativer Wirklichkeit kann bewusste Entfremdung, Verzerrung oder Ausblendung von Wahrheit bedeuten.
Wenn der kommunikative Inhalt politischer Propaganda im Missbrauch und der Verzerrung von Wahrheit besteht, so bedient sich die Markenwerbung einer geschonten und idealisierten Wirklichkeit, die die Bedürfnisse des Rezipienten befriedigen soll. Viele glauben in der Tat, dass nicht die Wahrheit, sondern allein die inszenierte Wirklichkeit eines Produktes von Belang sei: Heile Kaffee- Krönung- Welt mit wohlerzogenen Kindern, liebenswürdigen Göttergatten, besorgten Hausfrauen und artigen Dialogen fixiert nichts anderes als die Sehnsüchte und Träume der Verbraucher; jegliche tatsächliche Realität wird hier ignoriert. Jedenfalls denken so viele Werber. Die Inszenierung dieser perfekten heilen Welt dient den Hoffnungen des Einzelnen. Nicht selten wirkt aber genau diese Inszenierung als unfreiwillige Parodie einer zu großen Spanne zwischen Wirklichkeit und Wahrheit.
In diesem Zusammenhang fällt auch noch die Tatsache auf, dass die öffentliche Realität, mithin die öffentliche Meinung und deren Reflexion einem stetem Wandel unterzogen sind, mehr noch: Das Plakat seinerseits dokumentiert während seines öffentlichen Auftritts diesen immerwährenden Wandel. Form und Inhalt von Plakaten lassen Rückschlüsse über den Status Quo gesellschaftlicher Denkprozesse zu. Öffentliche Meinung und öffentliches Verhalten unterliegen zweifellos den messbaren Einflüssen der Werbung im Allgemeinen und des Plakates im Besonderen. Nicht minder interessant aber ist, wie sehr öffentliche Meinung und öffentliches Verhalten Einfluss auf die Werbung nehmen und Werbung als Spiegelbild der uns umgebenden Wirklichkeit fungiert, das heißt jene Werte, Bilder und Wahrnehmungsmuster reflektiert, mit denen wir unsere Welt täglich neu erdenken, realisieren und bewerten.
Ein schöner Gedanke – gewiss. Wenn Werber nur mutiger wären, wenn man ihnen nicht Zeit ihres Schaffens suggerieren würde, jegliche Irritation oder Verärgerung des Verbrauchers zu vermeiden. Nicht selten kommt es so zu dem Paradoxon, dass Kreative sich selbst als Avantgarde definieren. Werbung bleibt jedoch sowohl formalästhetisch als auch inhaltlich weit hinter dem zurück, was man couragiert nennt, das heißt, was soziokulturell fortschrittlich, innovativ oder gar avantgardistisch wäre. Gut gemeint, aber kraftlos, geschönt, aber irrelevant: So sieht die Realität vieler Plakate zumindest in Deutschland aus. Die meisten dieser Plakate verpuffen effektlos im großen Werbewust. Dabei ist es um so bedauerlicher, dass sie ihrem eigentlichen Auftrag und Kernziel, der öffentlichen Meinungsbildung, nicht gerecht werden. Denn wer intendiert, ein Spiegel öffentlicher Meinung zu sein mit der Zielvorgabe, eben diese öffentliche Meinung zu seinen Gunsten zu beeinflussen (dies ist nichts anderes als die Intention von Werbung), kommt nicht umhin, künstlerische Relevanz an den Tag zu legen. Relevant ist aber nur, wer wirklich eine Botschaft zu übermitteln hat, wer von der Norm abweicht oder, wie das chinesische Plakat, höchsten künstlerischen, typografischen und fortschrittlichen Ansprüchen gerecht wird.
Ein Plakat ist im Spektrum seiner Möglichkeiten sehr wohl Spiegelbild der Öffentlichkeit. Dieses Spiegelbild kann jedoch nur wirksam werden, wenn das Plakat die Sprache des Rezipienten spricht. Die Sprache des Rezipienten mag heterogen sein, aber sie ist immerhin genauso lebendig wie der Betrachter lebendig ist. Anders gesagt: Nivellierte Plakate bar allen Witzes, aller Ästhetik und aller Prägnanz sind keine Spiegelbilder der Öffentlichkeit, sondern Hohlkörper. Sie sprechen nicht an, weil sie in sich nicht ansprechend sind. Sie stiften keine Dialoge, sondern halten teils langweilige, teils als störend empfundene Monologe.
Gute, ihre Intention erreichende Plakate paraphrasieren nicht, sondern kommunizieren. Sie reizen. Sie haben Aufforderungscharakter. Sie reagieren nicht, sondern agieren. Sie spitzen zu. Sie provozieren. Und sie ermöglichen uns, das zu sehen, was wir sehen wollen: Spiegelbilder von uns, unserer Realität, dem uns umgebenden gesellschaftlichen Kontext, der Öffentlichkeit…